Bischof Overbeck wirbt für kirchliche Neubewertung der Homosexualität
Der Brief von Bischof Overbeck an die Pfarreien im Ruhrbistum:
Sehr geehrte, liebe Mitbrüder,
sehr geehrte, liebe Schwestern und Brüder,
das Schreiben der vatikanischen Kongregation für die Glaubenslehre zur Frage der Segnung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften erhitzt in diesen Tagen die Gemüter innerhalb wie außerhalb der katholischen Kirche. Mich erreichen zahlreiche Rückmeldungen von sehr vielen engagierten Gläubigen und insbesondere von Seelsorgerinnen und Seelsorgern, die über die in diesem Schreiben zum Ausdruck kommende Bewertung der Homosexualität empört sind. Menschen mit einer homosexuellen Orientierung fühlen sich gekränkt und verletzt. Die sehr massiven Reaktionen innerhalb unseres Bistums, in Deutschland und weit darüber hinaus berühren mich sehr.
Es wird mehr als deutlich, dass die bloße Wiederholung der bisherigen lehramtlichen Wahrnehmung und Wertung von Homosexualität auf naturrechtlicher Basis in der Gegenwart nicht mehr verstanden und auch nicht mehr akzeptiert wird. Im Gegenteil: Der dramatische Glaubwürdigkeits- und Plausibilitätsverlust der katholischen Sexualmoral selbst unter den Gläubigen mit engster Kirchenbindung beschleunigt sich. Die vielen öffentlichen Signale aus Kirchengemeinden und gerade auch von vielen Seelsorgerinnen und Seelsorgern bringen in diesen Tagen eine offene Ablehnung der lehramtlichen Position zum Ausdruck, die nicht mehr ignoriert werden darf.
Die Lehre der Kirche verlangt deshalb dringend eine erweiterte Sichtweise auf die menschliche Sexualität. Die Lern- und Erkenntnisfortschritte der letzten Jahrzehnte im Bereich vieler Humanwissenschaften sowie nicht zuletzt die Erfahrungen aus der alltäglichen Seelsorge müssen wesentlich tiefer als bisher in die Lehre der Kirche integriert werden. Hier geht es – bei aller Wertschätzung von Schriftzeugnis, Lehramt und Tradition – um die Übersetzung der Zeichen der Zeit, die von den Anfängen des Christentums an helfen, die gesamte Tradition als ein lebendiges Geschehen zu begreifen. Einfache, eindeutige und zeitlos gültige Antworten werden dem menschlichen Leben und der Geschichtlichkeit aller Erkenntnis selten gerecht. Wir dürfen deshalb fundamentalistischen Versuchungen in der Kirche nicht erliegen. Ausdrücklich erinnere ich zudem an die wichtigen Hinweise aus der wissenschaftlichen Erforschung der sexualisierten Gewalt, die eindringlich darauf aufmerksam machen, dass auch eine verengte Sicht auf die menschliche Sexualität ein Teil des Nährbodens der schrecklichen Missbrauchsgeschichte in unserer Kirche ist.
Ich schätze eine Empfehlung unseres Papstes Franziskus, die er immer wieder betont: Er wirbt für die „Kunst der Unterscheidung“, die in allen Fragen des Lebens sorgfältig abwägt, unterschiedliche Perspektiven einnimmt und auf vorschnelle Urteile und Bewertungen verzichtet. Die hier zugrundeliegende Haltung rechnet damit, dass Gottes Gegenwart sich in allen Zeiten und Situationen des Lebens zeigt, wo das wahrhaft Gute und Menschliche zur Entfaltung kommt. Dies geschieht ganz besonders in allen respekt- und liebevollen Beziehungen, die Menschen miteinander eingehen.
Es braucht deshalb eine ernsthafte und zutiefst wertschätzende Neubewertung der Homosexualität in unserer Kirche, damit es für die vielen Menschen mit gleichgeschlechtlicher Orientierung zu einer überfälligen Befreiung aus immensen Leidensgeschichten in Vergangenheit und Gegenwart kommen kann. Sehr viele von ihnen tragen – gemeinsam mit ihren Angehörigen – unzählige und oft kaum vernarbte Wunden vergangener Verletzungen mit sich, die Heilung brauchen. Dieser Schritt ist überfällig, unabhängig von der sensiblen Frage nach dem kirchlichen Status gleichgeschlechtlicher Beziehungen und Lebensgemeinschaften. Das Zweite Vatikanische Konzil sagt zu einem solchen Vorgehen:
„Wer bescheiden und ausdauernd die Geheimnisse der Wirklichkeit zu erforschen versucht, wird, auch wenn er sich dessen nicht bewusst ist, von dem Gott an der Hand geführt, der alle Wirklichkeit trägt und sie in sein eigenes Sein einsetzt“ (GS 36).
Homosexuelle Christen verstehen ihr Leben zurecht als Nachfolge Christi – auch in den Beziehungen, die sie in vertrauensvoller Liebe verbindlich miteinander eingehen. Darum bleibt auch der Wunsch verständlich, diese Verbindungen zu segnen, weil sie frei und verantwortungsbewusst der Gestaltung der eigenen Taufberufung im Raum der Kirche entsprechen wollen. Im besagten römischen Schreiben wird diese Möglichkeit auf dem Stand der heutigen Entwicklung strikt abgelehnt. Viele aktuelle theologische und humanwissenschaftliche Erkenntnisse, aber auch der Glaubenssinn der Gläubigen, der bei vielen gerade in diesen Tagen deutlich zum Ausdruck kommt, weisen in eine andere Richtung. Sie wollen damit den Menschen als ganze Person würdigen und dabei seine Sexualität nicht außen vor lassen. Sie gehört untrennbar zu dieser Identität dazu, erst recht, wo Menschen ihre Sexualität verantwortungsvoll und unter unbedingter Achtung der Würde des oder der anderen in Beziehungen leben.
Unsere von Spannungen geprägte derzeitige Lage ist in diesem Zusammenhang als Auftrag und Ansporn zu begreifen, immer wieder nach angemessenen Angeboten und Konzepten in der Seelsorge zu suchen, die helfen, dass homosexuelle Christen mit unserer Kirche in Verbindung bleiben, weil sie als Getaufte ein Teil von ihr sind. Gerade die Segensfeiern, die in diesem Kontext eine so wichtige Rolle spielen, sind entstanden aus der seelsorglichen Begleitung der betroffenen Menschen. Über das Gute ihres Lebens einen Segen zu sprechen, der nicht einer Trauung ähnelt, wohl aber Zeichen der Begleitung ist, soll doch zeigen: Im Namen der Kirche ist Gott in dieser Beziehung gegenwärtig. Dieses „zarte Porzellan“ bei glaubenden Menschen dürfen wir nicht zerbrechen, sondern müssen sie in ihren segensreichen Beziehungen stärken.
Mit herzlichen Grüßen und Segenswünschen
Ihr
Franz-Josef Overbeck